Diabetes Typ 1 und Essstörungen, wie hängen beide zusammen?

Offen, mutig und ehrlich: Perrine teilt ihre Geschichte

Ich freue mich unglaublich, heute einen ganz besonderen Beitrag auf meinem Blog veröffentlichen zu dürfen. Die wunderbare Perrine schreibt offen über ein Thema, das viel zu oft im Verborgenen bleibt: die Verbindung zwischen Typ-1-Diabetes und Essstörungen.

Perrine lebt seit über 22 Jahren mit Typ-1-Diabetes – sie kennt kein Leben ohne diese chronische Erkrankung. Und sie weiß genau, wie sehr Diabetes den Alltag bestimmt – vor allem, wenn man schon als kleines Kind mit Regeln, Verboten und ständiger Kontrolle aufwächst. In ihrem sehr persönlichen Erfahrungsbericht spricht sie mutig über ihre Kindheit, ihre Jugend, über schwierige Phasen, über das Gefühl, „anders“ zu sein – und über den langen Weg aus einer Essstörung, die sich ganz leise in ihr Leben geschlichen hat.

Ich bin voller Respekt und Dankbarkeit, dass Perrine ihre Geschichte mit uns teilt. Denn sie gibt damit vielen Menschen eine Stimme, die sich vielleicht allein fühlen mit ähnlichen Herausforderungen. Sie zeigt, dass es keine einfachen Lösungen gibt – aber dass man Wege finden kann. Und dass es hilft, offen darüber zu sprechen.

Danke, liebe Perrine, dass du den Mut hast, dieses wichtige Thema sichtbar zu machen. Danke, dass du auf meinem Blog darüber schreibst. Deine Worte berühren – und sie machen Mut.

Ein Bericht aus meiner Erfahrung

Ich heiße Perrine und vor 22 Jahren und 4 Monate bekam ich die Diagnose Diabetes Mellitus Typ 1. Ich war 25 Monate alt. Die Welt meiner Eltern brach zusammen.

In meiner Welt war der Diabetes immer da. Ich kenne kein Leben ohne Diabetes.

Vor 22 Jahren waren die Empfehlungen bezüglich des Diabetes Typ 1 anders. Es war wie verboten Zucker zu essen. Ich bin mit Zuckerersatz groß geworden. Heute sieht es anders aus. Heute kann und soll man, so normal wie möglich mit dem Diabetes leben. Damals musste der ganze Tag um den Diabetes programmiert werden.

Um 7 Uhr wurde den Blutzucker blutig gemessen und gespritzt. 20 Minuten später wurde gefrühstückt, immer das gleiche, weil die Dosis immer gleich war. Damals wurde nicht das Insulin ans Essen angepasst sondern das Essen an die Insulindosis. Man musste also schauen, immer die gleichen Kohlenhydrate Menge zu essen. Das führte in meiner Kindheit dazu, dass ich öfters sehr lange vor meinem Teller saß, weil ich aufessen musste.

Vor 20 Jahren hatte die Pumpe weniger Optionen, es war nicht immer möglich das Insulin für eine Zeitlang zu reduzieren. Unterzuckerungen liessen sich nicht so gut vermeiden. Ich aß regelmäßig noch etwas, obwohl ich keinen Hunger hatte, weil ich in einer Hypo war. (Das kennt man heute noch.)

Meinen jüngeren Bruder hatte kein Diabetes, durfte Süßigkeiten essen und bekam immer ein anderes Abendessen als meins. Er musste nicht immer Gemüse essen, ich schon. Er durfte zum Abendessen Nudeln mit Butter essen, ich nicht.

In der Schule bekam ich immer ein anderes Eis, andere Gummibärchen, andere Kekse. Mit weniger Zucker. Ich war das Kind mit dem Diabetes. Ich war anders.

Mit 8 habe ich angefangen Obst zu verstecken, um es später essen zu können. Meine Eltern haben zuckerfreie oder zuckerreduzierte Gummibärchen gekauft, geschaut, dass ich fast wie alle anderen Kinder essen darf. Es blieb aber immer fast und nicht gleich.

Mit 10, als wir im Ski Urlaub waren, habe ich eine Ketoazidose bekommen, weil ich viele Marshmallows gegessen hatte, ohne dafür zu spritzen. Ich habe mich während meines Skikurses übergeben und meine Mutter musste dann zwei Tage mit mir in der Wohnung bleiben, weil ich nicht mehr Ski fahren konnte.

Mit 13 habe ich mich mehrmals pro Woche in den Hypo gespritzt, um nachts unbeobachtet Eis und Kekse essen zu können. Mein Diabetologe verstand meine Werte nicht. Es gab keinen Sensor, man konnte es also nicht gut nachvollziehen. Ich habe ihn angelogen, als er mich fragte, ob ich nachts essen würde. Ich tat es aber.

Als ich 14 war, verbrachten wir ein Wochenende mit meinen Eltern, Großeltern und Tante in einer Wohnung. Ich habe vor ein paar Monate die Zöliakie Diagnose bekommen und hatte dadurch extra Kekse dabei. Ich stand wieder nachts auf, um zu essen. Diesmal fiel es aber auf.

Ich hatte um die 10 Kilos innerhalb ein paar Monate zugenommen. Meine Mutter hatte damals selbst mit starkem Übergewicht zu kämpfen.   

Nach diesem Wochenende haben meine Eltern, besorgt, sehr ernst mit mir gesprochen. Ich müsste unbedingt abnehmen, es könne nicht so weitergehen. Meine Mutter brach in Tränen aus und fragte mich, was sie falsch gemacht hätte, dass ich jetzt auch ein Übergewichtsproblem hätte.

Nebenbei wurde ich in der Schule deswegen auch gemobbt. Ich hatte das Gefühl, dass meine Eltern jetzt auch gegen mich waren. Das es sich um eine Essstörung handelte, war es den nicht bewusst. Ich habe weiterhin essen versteckt, noch mehr versteckt. Ich bekam Taschengeld und kaufte nur Süßigkeiten.

Ich versuchte mit den Süßigkeiten, die so lange verboten waren, eine innere Leere zu fühlen. Ich hatte alles satt, mein Diabetes, meine Schule, meine Eltern.

Ich wurde immer dicker und versteckte mich hinter immer breitere Kleidungen. Um so wenig Kontakt wie möglich mit meinem Mitschüler zu haben und aufgrund der Zöliakie, ass ich mittags nicht mehr in der Schule, sondern zu Hause.

Mit 15 konnte ich meine Insulinpumpe nicht mehr ertragen. Nach einem Gespräch mit meinen Eltern und Diabetologe entschieden wir uns wieder auf Pens zu wechseln.

Ich musste also jedes Mal neu spritzen. Am Anfang fühlte ich mich befreit. Ich musste meine Pumpe nicht mehr tragen. Mein Diabetes wurde unsichtbarer. Ich fand es schön.

Mit 16 entschiede ich mich für mein deutsch-französisches Abitur ins Internat zu gehen. Gleichzeitig wollte ich mich gesund ernähren. Ein paar Tage sehr gesund und dann ein Essanfall. So ging es mir lange, fast zwei Jahren. Damals war es mir nicht bewusst. Ich verstecke weiterhin essen, nahm aus den Schränken Sachen raus zu Hause. Ich habe sogar mal Süßigkeiten meines Bruders gestohlen. Ich hatte immer noch Übergewicht. Nur nicht mehr so stark.

Mit Ende 17, Anfang 18 fing ich an, wieder mehr Sport zu machen, um meinem Kopf während des Abis freizubekommen. Ich fand langsam ein Weg in einer gesunderen Beziehung zum Essen. Ich bereitete mir Porridge oder ein salziges Frühstück zu. Ich wollte eine „perfekte“ Blutzucker Kurve haben. Die Essanfälle wurden weniger, blieben aber trotzdem.

Nach meinem Abi entschied ich mich nach Deutschland zu kommen um als Au-Pair Mädchen in einer Familie zu arbeiten.

Der Tapetenwechsel tat mir gut. Seit einem halben Jahr setzte ich mich mit meiner Ernährung auseinander, lernte mehr über Mikro und Makronährstoffe. Ich machte weiterhin Sport, ganz viel Yoga und Meditation zuerst. Ich hatte viel weniger bis keinen Stress. Mir ging es besser. Mein Diabetes Management war mal so, mal so… Mein Hba1c bliebt zwischen 6,5 und 7,5.

Erst ein paar Jahre später, als ich 20, 21 wurde, verstand ich langsam, dass ich eine Essstörung hatte. Es war besser geworden, aber die Essanfälle existierten immer noch.

Eine Sache, die man oft unterschätzt ist der Mental Load bezüglich des Diabetes. Das ganze Leben dreht sich gefühlt ums Essen. Was essen, wann, wie viel, von was. Habe ich alles richtig gewogen, geschätzt. Wenn ich jetzt nichts esse, bleibt meine Kurve auch gerade. Das ist das Schwierigste, um aus der Essstörung rauszukommen. Es wird meistens empfohlen, nicht mehr auf die Kalorien und Co zu schauen, oder intuitiv zu essen, den Kontrollzwang loszulassen. Wie soll das aber mit dem Diabetes Management funktionieren? Wie soll ich es schaffen, weniger ans Essen zu denken, wenn ich wegen meines Diabetes und meiner Zöliakie, immer alles prüfen und wiegen muss?

Ich habe noch keine Lösung, es gibt keinen einfachen Tricks. Es gibt nicht nur eine Antwort.

Ich liste euch aber auf, dass was mir persönlich geholfen hat.

  • Mealprep, also Essen vorkochen und dann direkt die Nährwerte aufzuschreiben. Somit muss ich mir unter der Woche nur noch eine Portion servieren und weiß schon, wieviel ich dafür spritzen muss.
  • Aufhören, mir bestimmte Lebensmittel zu verbieten (glutenfreie). Ich habe gemerkt, dass wenn ich z.B Chips essen darf, dass das Verlangen danach nicht mehr so groß ist.
  • Akzeptieren, dass es manchmal Rückschläge geben kann. Als ich meine Mutter verloren habe, kamen die Essanfälle wieder stärker.
  • Bewegung, Sport. Ich fühle mich besser in meinem Körper, stärker und Ausdauerfähiger. Ich verbrenne somit auch mehr Kalorien und kann dann mit gutem Gewissen auch kalorienreicheres Essen zu mir nehmen. (Ich weiß, dass es zu eine Sportsucht führen kann.) Hier ist es wichtig, dass man auch ohne Sport zu machen sich vollwertig ernährt.
  • Ich bin seit 8 Monaten in Therapie und auch, wenn wir nicht über die Essstörung immer sprechen, hilft mir es sehr auch im Bezug auf meine Essstörung
  • Darüber zu sprechen, darüber zu schreiben, es mit anderen zu teilen. Mir hilft es über meine Essstörung zu schreiben und zu sprechen.

Mir ist es wichtig darüber zu sprechen, die Tabus rund um die Essstörungen mit Diabetes zu brechen.

 

Perrine Reinfeld-Arrivé @perrine_t1d

Über die Autorin:

Perrine ist Anfang 20, lebt inzwischen in Deutschland und liebt es, sich mit gesunder Ernährung, Bewegung und mentaler Gesundheit zu beschäftigen. Sie lebt mit Typ-1-Diabetes und Zöliakie – und geht ihren ganz eigenen Weg, mit viel Ehrlichkeit, Selbstreflexion und Offenheit. Neben Yoga, Mealprep und Sport hat sie auch das Schreiben für sich entdeckt – als Werkzeug zur Verarbeitung und als Möglichkeit, anderen Mut zu machen.

Perrine hat auch ein Insta Reel zu dem Thema gemacht:

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)

Bietet Informationen über Essstörungen, Materialien zur Prävention und Adressen von Beratungsstellen.

ANAD e.V. (München)

Beratungsstelle und Therapieangebote für Menschen mit Essstörungen, inklusive betreutem Wohnen.

TrotzDem – Bundesfachverband Essstörungen e.V.

Bundesweiter Fachverband, bietet Orientierung, Adressverzeichnisse und politische Arbeit zum Thema.

Fachverband Medienabhängigkeit e.V.

Bietet Informationen zur Verbindung zwischen Mediennutzung und Essstörungen – besonders für Jugendliche relevant.

BEAT (UK) – Eating Disorders Charity

Sehr umfangreiche Informationsplattform mit Unterstützung per Telefon, Chat und Foren.

NEDA – National Eating Disorders Association (USA)

Größte US-Organisation mit Infos, Online-Self-Tests und Unterstützungsmöglichkeiten.

Hinweis:

Viele lokale Gesundheitsämter und Psychosoziale Beratungsstellen (z. B. an Schulen, Unis oder in Jugendzentren) bieten ebenfalls Hilfe an. Bei akuten Notfällen ist auch der Hausarzt oder die nächste psychiatrische Klinik ein guter erster Anlaufpunkt.

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